Donnerstag, 25. Juni 2015

Dazwischen geht es um alles

Als literaturwissenschaftlicher Dilettant, der ein Schriftsteller immer sein sollte, kann man sich seinem Wirkungsfeld durch die Paraphrasierung einer sozialanthropologischen Theorie über den globalen Tourismus annähern: Dieser besteht demnach aus zwei Subsystemen, nämlich einem generating(Länder, aus denen Touristen stammen) und einem receiving (Länder, die Ziel von Touristen sind), außerdem gibt es zones of mutual interdependence, in welcher sich die beiden überlappen. Die einen Länder – generating – bringen Bürger hervor, die über das notwendige Kapital, die Zeit und insbesondere die Erschöpfung verfügen, um eine gewisse Erholung anzustreben. Ihnen werden mehr oder weniger exotische Ziele schmackhaft gemacht, die zweckmäßig bereist werden können, es gibt zudem Institutionen, die das ermöglichen. In den anderen Ländern – receiving – richtet sich die gesamte Gesellschaft auf die Gewährleistung des Erholungsbedürfnisses der Touristen aus, ist die gesamte Wirtschaft rund um die Tourismusindustrie organisiert, wird auch die Kultur – soweit sie im Dienst des Tourismus steht – zu einem Hybrid aus jener der generating Länder, aus der des Tourismus generell und natürlich auch aus jener der lokalen Bevölkerung selbst. Insgesamt geben die receiving Länder den einfallenden Erholungsbedürftigen die Möglichkeit und das Gefühl, sich wie auf einer Spielplatz für Erwachsene jenseits alltäglicher Normen verhalten zu dürfen. Die zones of mutual interdependence schließlich ergeben sich aus dem logischen Interesse seitens der Herkunftsländer, dass es den Zielländern wirtschaftlich und auch sonst halbwegs gut ergehe, damit die eigene Bevölkerung sich dort angstfrei und komfortabel erholen kann und so wieder fit für die Arbeitswelt daheim gemacht wird.
So weit, so gut. Was aber hat das mit Literatur zu tun?
Das habe ich mich auch gefragt, als mir unlängst eine Bekannte mit diesem Konzept zur Erklärung der Literarturwelt kam. Ihr zufolge setze auch diese sich aus zwei Subsystemen zusammen: einem generating, das Leute hervorbringt, die über das nötige Geld, vor allem aber die Zeit und das Interesse verfügen, sich mittels Belletristik zu erholen, sich selbst zu erkennen, aus dem Alltag auszusteigen – oder was auch immer die Motivation zu lesen sein mag; sowie einem receiving, das sich in den geschriebenen Büchern materialisiert, in denen es ähnlich wie in touristischen Zielländern zu einer Hybridisierung verschiedener Kulturen kommt - im konkreten aus jener der Gesellschaft, der die Lesenden entstammen, aus jener der Literatur generell und natürlich aus jener der Literaten (man könnte auch sagen, ein Gemisch aus gegenwärtigen Themen, Epochen übergreifenden literarischen Bezügen und den Lebenserfahrungen der Schreibenden). Denn dass ein Schriftsteller nur für sich schreibe, so meine Bekannte, ohne die Erwartungshaltung der Lesenden, ohne aktuelle Ereignisse und ohne die großen Themen der Literatur (Liebe, Tod und Erbstreitigkeiten) mitzudenken, sei, und da konnte ich nicht widersprechen, ein vermoderter Mythos. Ebenso leuchtete mir die Analogie mit dem Tourismuskonzept ein, wonach im receiving system – bei den Schriftstellern – sich alles um das Schreiben drehe, alle Handlungen, Entscheidungen, Wahrnehmungen auf das Schreiben ausgerichtet würden, alles und jede nur damit beschäftigt sei, für die Produktion eines guten Textes zu sorgen. Die Identifizierung der zones of mutual interdependence schließlich, in der sich die beiden Subsysteme aus Lesenden und Schreibenden überlappen, ergebe sich laut meiner Bekannten von selbst: Wenn die Lesenden ein vitales Interesse an dem Wohlergehen der Schreibenden haben, weil diese unmittelbar zwecklose, langfristig jedoch überlebensnotwendige Qualitäten hervorbringen, für die erstere nicht sorgen können, dann müsse das Vorhandensein von Büchern den Lesenden auch etwas wert sein.
Und es ist wohl dieser Aspekt, der den Vergleich Literatur – Tourismus bei all seiner Fragwürdigkeit und logischen Inkohärenz interessant macht. Ein Aspekt, der, ohne hier auf die komplexe Thematik eingehen zu wollen, mit der Diskussion um die Festplattenabgabe verbunden ist. Ob sich Lesende und Literaten in den zones of mutual interdependence auf Förderungen und Stipendien oder gar Steuerfreiheit für Autoren wie dazumal in Irland einigen, ist heute nämlich gar nicht mehr das Thema. Es geht mittlerweile schlicht um die Frage, ob die Lesenden auch weiterhin bereit sind, für Literatur (und Kunst generell) zu bezahlen. Denn wenn ich mir die Diskussionen in so manchen Internetforen zu Gemüte führe, stellt sich die Frage, ob es einschlägigen Postern überhaupt noch klar ist, dass künstlerische Werke nicht im Silicon Valley durch ein Computerprogramm entstehen, sondern im Regelfall in einer Wohnung oder in einem Haus von einem Mann oder einer Frau erarbeitet werden, was, so erschreckend banal das auch klingt, nach all den Jahrtausenden des literarischen Schaffens noch immer nicht kostenfrei von statten geht.